Sascha Müller – ein Grünenpolitiker im Gespräch

Sascha Müller, Direktkandidat der Grünen im Wahlkreis Nürnberg-Süd/Schwabach, hat sich mit dem „Sidekick“ (Frank Reimann und Sebastian E. Bauer) getroffen. Wir haben mit ihm über die Flüchtlingspolitik, Erdogan („Rechtsstaatlichkeit ist dort mittlerweile ein Fremdwort.“), Nordkorea („Die Hoffnung sollte man nie aufgeben.“) und die Klimapolitik gesprochen.

Sidekick: Wir steigen mit dem Thema ein, welches uns jetzt schon seit über zwei Jahren beschäftigt: die Flüchtlingssituation. Wir haben eine riesige humanitäre Katastrophe in Syrien, wir haben unglaublich viele Menschen, die gerade aus dem Nahen Osten nach Europa kommen. Um die Krise zu bewältigen, sind eben auch kreative Lösungen erforderlich. Da ist eine beispielsweise das Türkei-Abkommen. Halten Sie es für richtig, solche Abkommen mit einem Autokraten wie Erdogan abzuschließen, der nicht besonders viel auf Menschenrechte hält?

Müller: Also erstmal um das vorauszuschicken, ich habe keine Lösung des Syrienkonfliktes. Wenn ich eine hätte, hätte sich schon jemand anders gefunden. Dann wären wir da weiter. Was mich aber ärgert, ist, dass wir Europäer nur noch eine so untergeordnete Rolle spielen und wir nicht mehr zu einem Frieden beitragen können. Mein Wunsch ist, dass wir in Europa zu einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik kommen, damit wir das, was wir in den letzten Jahrzehnten in Europa gelernt haben, nämlich Interessenausgleich, in anderen Regionen einsetzen können, um solche Eskalationen zu vermeiden. Zur Frage: Nein, ich halte es nicht für sinnvoll, dass man sich in die Hände von Autokraten begibt und damit erpressbar macht. Ich halte dieses Abkommen für einen Fehler und wir sollten es so auch nicht mehr aufrechterhalten.

Sidekick: Würden Sie sich dann auch gegen Abkommen mit beispielsweise der sogenannten Regierung Libyens aussprechen?

Müller: „Sogenannt“ ist genau das entscheidende Adjektiv. Gibt es da überhaupt eine Regierung, die die Kontrolle über das Land hat? Die Situation in den Flüchtlingslagern in Libyen ist ja katastrophal. Deswegen macht man es sich zu einfach, wenn man alle aus dem Meer geretteten Flüchtlinge, was humanitär natürlich geboten ist, wieder nach Libyen zurückbringen will. Damit tut man niemandem einen Gefallen. Natürlich muss man auch, um mal ein bisschen allgemeiner zu reden, mit Regierungen sprechen, die einem nicht passen. Das ist einfach eine realistische Außenpolitik. Diese sollte wertegeleitet sein mit klaren Ansagen, schließt aber ein Sprechen mit anderen Regimen nicht aus, die unsere Werte nicht teilen. Es schließt auch im Einzelfall nicht Abkommen aus, wobei es nicht nochmal wie bei der Türkei laufen sollte, dass man sich erpressbar macht. Deswegen habe ich da große Bedenken und wir sollten uns andere Lösungen überlegen.

Sidekick: Innerhalb Europas gibt es ja einige, vor allem osteuropäische Länder, die sich weigern, Flüchtlinge aufzunehmen. Welche Mittel sollten da Deutschland und die EU anwenden, um mehr Solidarität nach einem fairen Verteilungsschlüssel einzufordern?

Müller: Also zunächst einmal braucht man eine klare Ansage an diese Länder, dass die Europäische Union eine Wertegemeinschaft ist, in der man sich gegenseitig unterstützt, die Rechte und Pflichten beinhaltet. Es geht also nicht, dass man sich da aus der Verantwortung zieht, trotzdem aber die Vorteile nutzt. Das gilt auch für Staaten wie Ungarn und Polen. Das bedeutet auch, dass man da zum Beispiel mit einem Bonus-Malus-System arbeiten kann. Wer sich also um die humanitäre Versorgung und Aufnahme der Flüchtlinge kümmert, der muss dann auch finanziell entlohnt werden, und die, die das nicht tun, müssen dann zumindest einen finanziellen Beitrag leisten, dass andere das tun.

Sidekick: Setzen Sie also eher auf ein System der Belohnung, als auf eines der Bestrafung sich weigernder Länder?

Müller: Das ist ja in gewisser Weise eine Bestrafung. So wie die EU jetzt konzipiert ist, kann ich die Staaten nicht zwingen. Aber ich kann sagen, wir leben in einer Wertegemeinschaft und ihr bringt Euch auf die eine oder die andere Weise ein.

Sidekick: Jetzt haben wir allerdings die Situation, dass Deutschland, absolut betrachtet, die meisten Flüchtlinge aufgenommen hat. Es sind ja aber auch Asylbewerber darunter, die kein Bleiberecht haben. Davon war auch im Kanzlerduell die Rede. Es wird immer wieder kritisiert, dass es zu wenige Abschiebungen gibt. Sie sind gegen Abschiebungen nach Afghanistan. Aber gerade bei Ländern wie Marokko oder Algerien, bei deren Flüchtlingen die Kriminalitätsrate höher ist, würden Sie sich da für striktere Abschiebungen einsetzten?

Müller: Bei dem Thema muss ich immer ein bisschen weiter ausholen, weil man da nicht auf eine einzige Maßnahme setzen kann. Wir brauchen zum einen ein neues Einwanderungsgesetz nach kanadischem Vorbild, wo man sagt, wir brauchen Fachkräfte mit einer bestimmten Qualifikation für dies oder das. Über dieses Einwanderungsgesetz könne sich dann Menschen bei uns bewerben und Aufnahme bei uns finden. Zweitens brauchen wir natürlich das Asylrecht und die Genfer Flüchtlingskonvention, an die wir gebunden sind. Humanität kennt keine Obergrenze. Drittens brauchen wir natürlich Fluchtursachenbekämpfung. Und viertens brauchen wir Aufklärung in den Ländern, unter welchen Umständen darf man nach Deutschland kommen und unter welchen hat man eben kein Bleiberecht. Im Moment ist es ja so – und da dürfen wir nicht blauäugig sein -, dass die Schlepper das Blaue vom Himmel versprechen, den Menschen das Geld aus der Tasche ziehen und dann stellen die Menschen fest, dass sie quasi betrogen worden sind.

Natürlich muss dann nach den einzelnen Kriterien geprüft werden. Wer sich um Arbeitsmigration bewirbt, kann das schon vom Heimatland aus tun. Bei Flucht geht das nicht so einfach. Und wenn die Menschen nicht bleiben dürfen, müssen wir denen sagen, dass sie wieder in ihre Heimatländer zurückgehen müssen, müssen wir Rückkehrhilfe leisten, und wenn das nicht hilft – das ist die bittere Wahrheit -, auch zurückführen. Allerdings nicht, wenn den Leuten wie beispielsweise in Afghanistan Gefahr für Leib und Leben droht, unserer Ansicht nach und auch der der Hilfsorganisationen.

Sidekick: Würden Sie sagen, dass es in Afghanistan auch sichere Regionen gibt, weil man das ja auch öfter in Pressemitteilungen seitens des Auswärtigen Amtes hört, als Begründung dafür, dass man dahin abschiebt? Konkret werden dann allerdings selten welche genannt.

Müller: Das ist das Problem. Wenn man eine Region heute als sicher deklariert, kann das nächste Woche schon wieder ganz anders sein, weil sich die Kämpfe in der Zeit verlagern. Ich erzähle mal eine Anekdote dazu aus dem Bundestag: Mein CSU-Gegenkandidat Michael Frieser hatte im Mai in einer Bundestagssitzung vor der Sommerpause die Meinung vertreten, es gebe dort sichere Regionen. Und dann hat mein guter Freund Omid Nouripour, von den Grünen aus Hessen, eine Kurzintervention gemacht. Er hatte eine Liste mit allen Regionen, die nach Ansicht der Bundesregierung in Afghanistan als sicher eingestuft werden. Da war unter anderem eine Stadt aufgelistet, die ihm als Deutsch-Iraner aufgefallen ist, weil sie gar nicht in Afghanistan, sondern im Iran liegt. Das liegt daran, dass viele afghanische Flüchtlinge zuerst dorthin geflohen sind. Eigentlich ist das nicht wirklich lustig. (Hier in der Mediathek des Bundestages; ab 14:10:00)

Sidekick: Jetzt zur Außenpolitik, nochmal zur Türkei. Angela Merkel und Martin Schulz fordern beide den Abbruch der EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei. Halten Sie den Weg für sinnvoll, sich zum Beispiel dadurch immer weiter von der Türkei zu entfernen, oder sollte man mit guten Angeboten und einer Politik der Annäherung die Türkei wieder eher an europäische Wertevorstellungen heranführen?

Müller: Der jetzigen türkischen Regierung Angebote zu machen, halte ich für falsch. Es ist ein Regime, das so nicht fit für die EU ist. Das muss man ganz klar sagen. Es entfernt sich immer weiter von europäischen Werten, also die Einführung der Todesstrafe geht schon einmal gar nicht. Rechtsstaatlichkeit ist dort mittlerweile ein Fremdwort. Also realistisch betrachtet existiert derzeit keine Beitrittsperspektive. Es ist aber ein Unterschied, ob man die Beitrittsverhandlungen auf Eis legt, in der Hoffnung, dass dort irgendwann eine andere Regierung herrscht, sodass man dann an der Stelle weitermachen kann, oder ob man die Verhandlungen vollständig abbricht und man komplett von vorne beginnen müsste. Deswegen würde ich raten, die Beitrittsverhandlungen auf Eis zu legen, auf schwer absehbare Zeit, und auf die Zukunft zu hoffen. Ich glaube schon, dass eine demokratische Türkei irgendwann eine Perspektive auf die EU hat. Das ist momentan aber definitiv nicht der Fall. Wir dürfen nicht vergessen, neben dem Regime gibt es auch noch eine demokratische Opposition. Zu dieser müssen wir den Kontakt halten und sie unterstützen, wo es geht. Das gilt aber grundsätzlich für alle autokratischen Systeme in der Hoffnung auf eine zukünftige Regierung dieser demokratischen Kräfte.

Sidekick: Ein weiteres momentan sehr präsentes außenpolitisches Thema: Nordkorea. Ein amerikanischer Präsident stachelt die Situation momentan durch undurchdachte Tweets immer weiter an. Eine Eskalation scheint auch weite Teile der deutschen Bevölkerung für nicht mehr für ganz unmöglich. Deutschland lehnt eine militärische Lösung selbstverständlich ab. Welche Rolle sollte Deutschland allerdings in diesem Konflikt einnehmen?

Müller: Die Schweiz hatte ja angeboten, sie könnte vermitteln. Auch die Kanzlerin hat dies inzwischen getan. Es ist zumindest einen Versuch wert. Wie schon vorhin erwähnt, auch hier zeigt sich die Notwendigkeit einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der EU. Ich glaube auch gerade hier, dass die EU als Ganzes ihr Gewicht einsetzen sollte, um auch wieder ein relevanter Player in der Außenpolitik zu sein. Ein Herr Trump würde eine starke EU ernster nehmen, als wenn jedes Land mit einer einzelnen Stimme spricht. Deswegen setze ich darauf, habe aber auch nichts gegen solche Vermittlungsversuche der Schweiz, als klassisches, neutrales Land. Ich sage es ganz ehrlich, ich bin da nicht sehr optimistisch. Ich hoffe natürlich, dass es nicht eskaliert und zu kriegerischen Handlungen kommt. Ich bin nicht sicher, ob die beiden Protagonisten hier zur Vernunft kommen, aber die Hoffnung sollte man nie aufgeben.

Sidekick: Kommen wir zu einem ganz anderen Thema, dem Diesel-Skandal. Bislang sind nur Software-Updates zur Verbesserung der Abgaswerte vereinbart bzw. verpflichtend. Denken Sie, dass künftig auch Hardware-Updates nötig sein werden?

Müller: Ja, unbedingt. Die Software-Updates werden nicht dazu beitragen, dass zum einen die Luft in den Städten sauberer wird, und zum anderen die Autos auf den Zustand gebracht werden, der versprochen wurde. Das ist der eigentliche Skandal, dass da ein Produkt verkauft wurde, von dem viele Menschen im guten Glauben gedacht haben, sie kaufen ein Auto, das weniger CO2-Ausstoß hat und damit klimafreundlicher ist als ein Benziner und trotzdem die negativen Seiten, die Stickoxidbelastung, durch entsprechende Technik reduziert wird, und von dem sie jetzt feststellen müssen, das stimmt gar nicht, sie sind ein Stück weit betrogen worden. Das hat natürlich den Wiederverkaufswert enorm herabgesetzt. Dafür müssen die entschädigt werden und da gehört für mich dazu, dass das Auto in den technischen Zustand versetzt wird, wie es angeboten wurde. Ganz klar muss das auf Kosten der Hersteller geschehen.

Sidekick: In den USA müssen extrem hohe Entschädigungen gezahlt werden. Würden Sie so etwas auch in Deutschland befürworten?

Müller: Die USA hat ein anderes Verbraucherschutzsystem. Da gibt es die drakonischen Strafen, wenn sich ein Produkt als schädlich erweist. Wir gehen ja einen anderen Weg. Bei uns muss vor der Zulassung eines Produktes erst die Unbedenklichkeit nachgewiesen werden. Nein, ich wäre dafür, dass hier die Produkthaftung voll zum Tragen kommt.

Es gibt Nachrüst-Systeme, die Kosten 1.500 Euro. Das tut den Herstellern zwar weh, bringt sie aber nicht um. Wir brauchen nicht unbedingt zu Strafzahlungen an den Staat führen, aber die Nachbesserungen sollten eingefordert werden.

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Sascha Müller: „Humanität kennt keine Obergrenze.“ Alle Fotos: Sebastian E. Bauer

 

Sidekick: Für viele erscheint jetzt das Elektroauto als ideale Lösung. Großbritannien und Frankreich haben auch schon Daten festgelegt für den Stopp des Verbrennungsmotors. Aber nicht nur aus wirtschaftlicher, sondern auch ökologischer Sicht erscheint das Elektroauto nicht gut. Manche Rechnungen ergeben, dass sich ein E-Auto von der CO2-Bilanz erst nach acht Jahren rentiert. Was sagen Sie als Grüne dazu, wo Sie sich doch für deren Verbreitung sehr einsetzen?

Müller: Wir fordern, dass es ab 2030 keine Neuzulassungen von Fahrzeugen mit Verbrennungsmotor mehr gibt, also nur noch abgasfreie Autos neu auf die Straße gehen. Mit welcher Technologie das umgesetzt wird, dafür sind wir offen. Im Moment setzt die Industrie da auf das Elektroauto. Das ist für uns auch ein gangbarer Weg. Manchmal wird mit dramatischen Zahlen operiert. Ein interessanter Artikel in der „Wirtschaftswoche“ rechnet vor, dass man da nicht so dramatisch lange fahren muss, um die CO2-Bilanz auszugleichen. Es kommt auf die Größe, das Gewicht des Autos und die Größe der Batterie an. Ganz besonders negativ ist das bei dem großen Tesla. Im Gegenzug baut Tesla allerdings gerade große Solarfarmen, um die CO2-Bilanz bei der Herstellung zu verbessern. Dieses Argument fällt also weg. Und der Strommix, mit dem das Auto fährt, ist natürlich auch von Bedeutung. Weil sich mit einem besseren Strommix auch die CO2-Bilanz verbessert, bin ich sehr optimistisch, das Ziel von 2030 einzuhalten. Die deutschen Ingenieure sind auch nicht dümmer als andere. Wir machen ja die Energiewende, um einen Strommix zu erhalten, der – richtig gemacht – zu diesem Zeitpunkt dann auch CO2-frei ist.

Sidekick: Die Grünen setzen sich momentan sehr für das Ende des Verbrennungsmotors ein, keine Neuzulassungen ab 2030. Ist dies tatsächlich die Lösung im Bereich Mobilität, haben Sie sich vielleicht zu sehr auf dieses eine Thema „eingeschossen“? Werden da momentan nicht die wichtigen Fragen im Mobilitätskonzept – auch von den Grünen – vernachlässigt, also ein starkes Zurückfahren des Individualverkehrs, ein massiver Ausbau des ÖPNV?

Müller: Nein, so ist es nicht. Wir setzen uns natürlich auch weiterhin neben dem Ausbau des ÖPNV für den Ausbau von Radschnellwegen ein und für verschiedene Verkehrstechniken, sich fortzubewegen. Was viel zu wenig beachtet ist, ist Carsharing. Ich habe so den Eindruck, dass der Besitz eines Autos für Jüngere nicht mehr so den Wert hat wie für die Generation der Fünfzig- oder Sechzigjährigen. Sondern es geht mehr um die Frage, wie ich schnell von A nach B komme. An das Auto komme ich mit Car-Sharing viel günstiger heran, weil es ja aufgrund von Bus und Bahn nur um den letzten Teil der Strecke geht. Dass das momentan ein bisschen in den Hintergrund gerät, liegt am Diesel-Skandal und der Suche nach Alternativen, und weil die Automobilindustrie für Deutschland und die Arbeitsplätze so enorm wichtig ist. Wir wollen natürlich mit dieser Schlüsseltechnologie weiterhin führend am Markt sein. Winfried Kretschmann hat da ein Forschungs- und Infrastrukturprogramm über vierzig Millionen allein für Baden-Württemberg auf den Weg gebracht. So etwas wünschen wir uns auch für den Bund. Es ist aber nicht so, dass wir den Verbrennungsmotor eins zu eins durch Elektroautos ersetzen wollen und das Problem dann für gelöst halten. Da denken wir natürlich ganzheitlicher.

Sidekick: Insgesamt werden die Grünen bei dem Thema trotzdem wenig konkret, obwohl es sicherlich stark zur klimafreundlichen Politik beitragen würde. Man hört in dem Bereich wenig von den Grünen.

Müller: „Es ist wenig zu hören“ höre ich in verschiedenen Bereichen immer wieder. Die Tierschützer sagen auch zum Beispiel: Ihr müsst im Tierschutzbereich lauter werden, da höre ich nichts von euch. Dass wir den Ausstieg aus der industriellen Massentierhaltung wollen, sagen wir auch immer wieder. Toni Hofreiter war deswegen hier in Schwabach, darüber habt ihr auch berichtet. Das ist halt momentan nicht jeden Tag in der „Tagesschau“. Noch einmal, wir wissen sehr wohl, dass wir verschiedene Möglichkeiten umweltfreundlicher Mobilität haben und wir wollen diese auch gleichberechtigt fordern. Ich habe die Radschnellwege genannt. Auch für Pendler könnte es interessant werden, mit dem Rad in die Stadt zu fahren, wenn ich Wege habe, wo mich keine Autos stören. Im Ruhrgebiet gibt es die schon vielerorts massiv. Bei uns sind sie zumindest in der Planung.

Sidekick: Sie haben vorhin schon den Strommix angesprochen. Für Elektroautos aber auch den Strom, den wir aus der Steckdose beziehen. Nach Fukushima wurden alle deutschen Atomkraftwerke sehr plötzlich abgeschaltet. Bis die erneuerbaren Energien genügend ausgebaut sein werden, muss der Bedarf durch die CO2-technisch sehr schädliche Kohle gedeckt werden. Wäre es nicht besser gewesen, die Atomkraftwerke noch etwas länger laufen zu lassen, in Deutschland ist die Sicherheit sehr hoch und über die Endlagerung des Atommülls muss sich so und so Gedanken gemacht werden?

Müller: Es ist richtig, die Endlagerfrage ist bis heute nicht geklärt. Aber nein: Wir hatten bereits in der ersten rot-grünen Regierung im Jahr 2000 einen Atomausstiegskonsens mit den Konzernen ausgehandelt. Und der sah einen klaren Abschaltplan vor. Dieser wurde dann nach Amtsantritt von der schwarz-gelben Regierung Merkel-Westerwelle aufgekündigt. Nach Fukushima hat man dann nichts Anderes gemacht, als wieder umzuschwenken und auf den ursprünglichen Plan zurückzugehen, interessanterweise in Teilen sogar noch schneller auszusteigen. Der Weg war schon lange vorgezeichnet, man hat sich darauf einstellen können. Der nächste Schritt ist jetzt, die Klimaziele von Paris einzuhalten und in der Folge perspektivisch auch aus der Kohle auszusteigen. Cem Özdemir macht da ja immer den Witz, ob noch jeder weiß, wer Sepp Herberger ist. Die 20 ältesten Kohlekraftwerke aus dessen Zeit müssen sofort vom Netz. Das können wir auch verkraften, weil wir ja ohnehin Strom exportieren. Dann müssen wir natürlich auch alle anderen vom Netz nehmen, da streben wir als Endpunkt 2030 an. Auf jeden Fall brauchen einen klaren Ausstiegsplan. Dazu gehört übrigens auch – das gehört zum Umstieg auf erneuerbare Energien dazu –, wir brauchen eine andere Netzarchitektur und neue Speichertechnologien. Da ist eine Herausforderung, aber es ist in angemessener Zeit machbar.

Sidekick: Der nächste Punkt ist das Pariser Klimaabkommen. Donald Trump hat es aufgekündigt. Angela Merkel hat sich zwar den Namen der Klimakanzlerin eingehandelt, wirkt allerdings bei den Umsetzungsversuchen teilweise etwas halbherzig. Wie würden Sie ihre Klima- und Umweltpolitik der letzten vier Jahre beurteilen?

Müller: In den letzten zwölf Jahren, seit wir nicht mehr mitregieren, macht sich ein Stillstand bemerkbar. In den letzten acht Jahren haben wir keine Reduzierung des CO2-Ausstoßes in Deutschland mehr, das sind die Zahlen des Umweltbundesamtes. Da ist viel zu wenig passiert, was die Einhaltung der Pariser Klimaziele natürlich sehr schwierig macht. Das ist anspruchsvoll – das gebe ich zu –, selbst wenn wir regieren, ist das eine große Kraftanstrengung. Ich gehe davon aus, dass das jede andere Regierung ohne grüne Beteiligung weiter verschleppt, wie das erfahrungsgemäß in den letzten Jahren war. Deswegen wollen wir auch unbedingt wieder regieren, gerade damit es wieder vorangeht. Angela Merkel hat sich tatsächlich das Wort „Klimakanzlerin“ angesteckt und da auch schöne Fotos produziert. Ich glaube, sie ist es nicht mehr, die Zahlen sprechen eine andere Sprache. Ich glaube aber auch, dass sie als Naturwissenschaftlerin durchaus weiß, wovon sie redet. Deswegen macht sie auf internationalem Parkett, wenn sie mit Trump darüber redet, eine gute Figur. Wenn sie wieder nach Hause kommt, dann ist sie erstmal wieder Politikerin. Und dann hat sie drei Probleme: CDU, CSU und SPD, die Regierungsparteien. Und da ist das momentan nicht oben auf der Agenda.

Sidekick: Sie fordern in ihrem Wahlprogramm ähnlich wie die Linken eine Freigabe von Cannabis, einer „weichen Droge“. Cristal Meth und Heroin sollen weiterhin den illegalen Status behalten. Wo ziehen Sie da die Trennlinie?

Müller: Ich bin kein Drogenexperte, ich lebe mein Leben lang drogenfrei, insofern tue ich mich mit der Antwort ein bisschen schwer. Zumindest, wenn man Schokolade nicht als Droge ansieht… Nein, im Ernst: Die Kriminalisierung von Cannabis ist schwer zu verstehen. Alkohol ist in Deutschland legal, man kann so viel trinken, wie man will, ohne bestraft zu werden. Auch wenn man sich dann nicht unter Kontrolle hat. Man darf nur nicht mehr fahren. Aber die Schwelle, dass man gewalttätig wird, sinkt natürlich mit hohem Alkoholkonsum. Und das ist bei Cannabis nicht der Fall. Umgekehrt, wenn ich erwischt werde, kriege ich ein Verfahren, welches die Gerichte und die Polizei beschäftigt, die sich vielleicht auch um wirklich wichtigere Dinge im Moment kümmern könnten. Und dann bin ich im Falle eines Verfahrens auch noch vorbestraft und verschiedene Berufswege sind mir vielleicht versperrt. Die ganze Drogenpolitik in dem Bereich ist nur noch schwer nachvollziehbar. Deswegen ist für mich ganz klar, Cannabis soll für Volljährige legalisiert werden. Die Qualität soll natürlich in entsprechenden Einrichtungen geprüft werden. Ob das jetzt eine Apotheke sein soll oder irgendwelche zertifizierten Shops, darüber kann man dann noch reden. Wenn ich illegal besorgen muss, was auch in der Frage genannt worden ist, gibt es weitere Probleme. Zum einen eben die Qualität, vielleicht ist das Zeug zu stark. Zum anderen hat der Dealer auch noch andere Drogen möglicherweise in der Tasche und sagt „Probier doch mal aus“. Da ist die Schwierigkeit, wie ich diese Szenen dann trennen kann. Das ist so gar nicht möglich. Da erhoffen wir uns, dass man in den speziellen Shops gar nicht erst an andere schlimme Dinge wie Cristal Meth gerät.

Sidekick: Die Argumente könnte man aber alle auch auf „härtere“ Drogen anwenden. Man würde dem Dealer das Geschäft entziehen, die Qualität wäre sicherer, Minderjährige wären vielleicht besser geschützt.

Müller: Ja klar, würde man machen. Ob das wirklich der Königsweg ist, wage ich nicht zu beurteilen. Wie gesagt, mir ist die Thematik kulturell schon ziemlich fremd. Ich bin da jetzt auch kein Experte. Unsere Experten, die sich damit auseinandergesetzt haben, haben diesen Vorschlag gemacht. Ich werde jetzt sicher nicht für die Freigabe von Cristal Meth oder anderen Drogen plädieren. Dazu kann ich einfach keine wirklich fachliche Meinung abgeben.

Sidekick: Eine weitere, recht umstrittene Forderung von Ihnen ist die Frauenquote, 50 Prozent haben Sie jetzt festgelegt…

Müller: In welchem Bereich?

Sidekick: In wirtschaftlichen Unternehmen.

Müller: Es ist so: Wir brauchen eine Quote für die 3.500 börsennotierten und mitbestimmten Unternehmen. Fakt ist, dass wir eine gläserne Decke haben. Bei Schul- und Studienabschlüssen könnte man jetzt nicht sehen, dass es da ein Gefälle gibt. Das heißt, mit freiwilligen Selbstverpflichtungen kommen wir da nicht weiter. Meine Erfahrung ist – wir haben ja selbst eine Frauenquote von 50 Prozent in der Partei –, dass gemischt zusammengesetzte Gruppen, nicht nur von Geschlecht sondern auch von Alter, Herkunft und was auch immer, die kreativen Lösungen bringen. Das ist deswegen auch durchaus im Interesse von Großunternehmen, dass wir mehr auf „Diversity“ achten und dann eine ausgeglichene Vorstandsetage haben.

Sidekick: Frauen studieren aber nicht so oft wie Männer beispielsweise BWL oder mathematische Berufe, die eine gute Grundlage sind, Aufsichtsrat zum Beispiel in einem DAX-Konzern zu werden. Sind 50 Prozent dann nicht mehr als eine Gleichstellung, also eine Übervorteilung?

Müller: Das sehe ich nicht so. Ich würde mal ketzerisch die Frage stellen, muss man immer BWL studiert haben, um ein Unternehmen leiten zu können. Manchmal ist es ja auch gut, wenn ich den praktischen Weg eingeschlagen habe, das Unternehmen auch gut kenne und mich dann auf anderem Wege dort hochgearbeitet habe, weil ich eben etwas draufhabe. Die Variante gibt es auch. Richtig ist eines, das hat jetzt einen anderen Fokus, dass es tatsächlich sogenannte typische „Frauenberufe“ gibt. Es gibt Berufe, bei denen Frauen überrepräsentiert sind, wo Frauen aus welchen Gründen auch immer – das will ich jetzt nicht bewerten – eher diese Berufswahl einschlagen. Das sind dann oft Berufe – Pflegeberufe, Erzieherberufe -, die schlechter bezahlt sind. Das ist eine andere Baustelle, aber auch da muss man, wenn man den Gender-Pay-Gap angehen möchte, schauen, dass diese „typischen Frauenberufe“ besser entlohnt werden, weil das ja auch Berufe sind, die für uns als Gesellschaft enorm wichtig sind. Das Thema gehört in dem Kontext auch gesagt.

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Sascha Müller: „Wir wollen unbedingt wieder in die Regierung.“

Sidekick: Innere Sicherheit. Wir haben in den letzten Jahren viele Terroranschläge erlebt. Vor allem hat sich auch die Art des Terrors gewandelt. Es geht jetzt insbesondere darum, in der Zivilbevölkerung großen Schaden und in erster Linie Schrecken zu verbreiten. Es richtet sich nicht nur gegen einzelne hochrangige Personen. Trotz dessen und anderer Kriminalität, z. B. von Rechts- und Linksradikalen, stellen die Grünen sich im Gegensatz zur Union gegen eine Verschärfung der Videoüberwachung. Warum?

Müller: Nicht ganz korrekt. Beispielsweise in der Königstorpassage in Nürnberg am Hauptbahnhof, da hängen viele Kameras. Die würden wir im Moment nicht abbauen. Das ist, muss man sagen, ein Brennpunkt. Und da ist es gut, wenn man beobachten kann, was los ist, und dann bei Bedarf schnell hingehen kann als Polizei. Das muss man immer wieder überprüfen, ob diese Brennpunkte so noch existieren. Irgendwann kann man sie evtl. auch wieder abbauen. Letzten Endes ist eine Überwachung, auch wenn ich als unbescholtener Bürger durchgehe, ein Eingriff in meine Privatsphäre. Was wir nicht wollen – das geht ja auch technisch gar nicht, das muss ja alles ausgewertet werden -, ist eine flächendeckende Videoüberwachung. Ich glaube aber auch nicht, dass Videoüberwachung gegen Terroranschläge hilft. Im Gegenteil: Terroristen wollen Angst und Schrecken verbreiten. Und da ist es für sie ja gut, wenn sie sich vor den Augen einer Kamera in die Luft sprengen. Das ist dann vielleicht sogar in deren Sinne. Deswegen halte ich die Videoüberwachung zur Kriminalitätsbekämpfung an gewissen Orten für durchaus sinnvoll eingesetzt, wenn man es immer wieder evaluiert. Aber nicht gegen Terror. Da hilft eine bessere internationale Zusammenarbeit. Der Terror arbeitet länderübergreifend. Dann müssen wir das auch tun. Das bedeutet beispielsweise, dass wir einheitliche Datenschutzstandards haben müssen in Europa. Ich bin selbstverständlich für hohe Datenschutzstandards, aber man sollte die so weit vereinheitlichen – auf hohem Niveau -, dass es kein Hindernis ist, um die Daten schnell abzugleichen. Wie das mit Anis Amri passiert ist. Da sind noch mehr Fehler passiert, aber der hat geradezu darum gebettelt, festgenommen zu werden. Und dass der Informationsaustausch versagt hat, hängt auch damit zusammen. Auch viele weitere Punkte, die von der Union vorgeschlagen werden, sind nicht zielführend. Die Bundeswehr im Innern zum Beispiel, weil die Polizei einfach besser ausgerüstet und ausgebildet ist. In einem Katastrophenfall kann die Bundeswehr helfen, aber sie hat keine polizeilichen Befugnisse. Das muss man schon weiterhin trennen. Oder die Staatstrojaner. Überwachungsmaßnahmen können natürlich Kriminalität bekämpfen. Wir haben auch – das darf man nicht vergessen – viele Erfolge in Deutschland im Kampf gegen den Terror gehabt. Terroranschläge sind verhindert worden. Viel mehr als es tatsächlich gab. Überwachungsmaßnahmen können im Einzelfall geboten sein, müssen aber immer auf richterliche Anordnung basieren. Wir müssen immer aufpassen, geben wir unsere freiheitlichen liberalen Werte auf, auch am Beispiel Sicherheit. Die Terroristen wollen uns auch in unserer liberalen Gesellschaft, unserer liberalen Haltung treffen. Und da darf man nicht den Fehler machen, dass wir genau das aufgeben. Sonst haben sie ihr Ziel erreicht.

Sidekick: Sie als Grüne stellen sich ja gegen das föderale Schulsystem und für eine Vereinheitlichung im Bund. Würde das nicht für Bayern eine Senkung der sehr hohen Bildungsstandards bedeuten und ist es generell richtig, den Ländern eine der wenigen wichtigen Kompetenzen zu nehmen?

Müller: Da müssen wir einen Mittelweg finden, aber grundsätzlich ist es nicht hinnehmbar, dass der Bund Schulen in Entwicklungsländern unterstützt, aber zu renovierungsbedürftigen Schulen in Bremen nichts beitragen kann und das Bundesland alleingelassen wird. Man muss nicht direkt die föderale Struktur vollständig zerschlagen, aber dennoch war es ein klarer Fehler, die Bildung zu einer reinen Ländersache zu erklären und dem Bund keinerlei Befugnisse zuzugestehen. Die, die den Schaden davon tragen, sind dann häufig die Kinder, deren Mütter oder Väter aus beruflichen Gründen in ein anderes Bundesland ziehen. Die müssen sich dann nicht nur an ein neues Umfeld gewöhnen und neue Freunde finden, sondern sind auch mit einem ganz neuen Lehrplan konfrontiert.

Sidekick: Wie muss sich die Bildung in Zeiten der Digitalisierung anpassen? Muss es weiterhin Fakten geben, die man in der Schule lernen muss, um beispielsweise politische Themen richtig einordnen zu können?

Müller: Natürlich ist Faktenwissen wichtig, keine Frage. Die Schulen müssen sich aber jetzt, in Zeiten der Digitalisierung, die uns zwangsläufig alle trifft, mit ihr auseinandersetzen. Jahreszahlen lassen sich schnell auf Wikipedia finden, aber beispielsweise „Fake News“ von seriösen Quellen zu unterscheiden, ist nicht so einfach, eine Tatsache, die auch jetzt im Wahlkampf fatale Folgen haben könnte. Mir ist es, auch durch meinen Job als Journalist, sehr wichtig, dass Medienkompetenz zentraler Bestandteil des Unterrichts wird.

Sidekick: Die Standardfrage aller Journalisten: Was wären ihre bevorzugten Koalitionen?

Müller: Die Partei, der wir inhaltlich am nächsten sind, ist die SPD, ganz klar. Da aber alles darauf hindeutet, dass es für Rot-Grün nicht reicht, müssen wir andere Möglichkeiten in Betracht ziehen. Es gibt mit anderen Parteien große Differenzen, beispielsweise mit Wagenknechts Russlandpolitik oder dem „Berliner Kreis“ in der Union. Dennoch werden wir, außer mit der AfD, mit jedem reden. Wir haben ein 10-Punkte-Papier und werden in einer Koalition versuchen, trotz der vielen Kompromisse, die diese mitbringt, möglichst viel von diesen Punkten umzusetzen.

Sidekick: Eine kurze Antwort bitte: Warum sollte man die Grünen wählen?

Müller: Weil wir die einzige Partei sind, die den Klimaschutz ernst nimmt und in diese Richtung Schritte unternimmt.

Sidekick: Was ist ihre Vision für ein Deutschland in 30 Jahren?

Müller: Dass wir weiterhin in einer liberalen Demokratie leben, angetrieben von ökologisch erzeugtem Strom, weiterhin friedliche Verbindungen zu unseren Nachbarn pflegen und mit unserem Engagement innerhalb eines vereinten Europa zu einer friedlicheren Welt beitragen.

Sidekick: Schönes Schlusswort! Vielen Dank für das Gespräch.

 

Das Gespräch führten Frank Reimann, 9e, und Sebastian E. Bauer, 9a.

 

 

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