Der 94-jährige Abba Naor, ein Überlebender des Holocausts, war am 24. November 2022 am Wolfram-von-Eschenbach-Gymnasium, um den 10. Klassen beider Gymnasien in Schwabach von seinen Erfahrungen zu berichten. Vier Jahre lang war er in Gefangenschaft und das nur, weil er ein Jude ist. Ursprünglich kommt er aus Litauen, lebt seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs aber in Israel. Schon seit vielen Jahren setzt er sich für die Aussöhnung ein. Herr Freller, der Vizepräsident des bayerischen Landtages, hat dieses Gespräch mit Herrn Naor für uns ermöglicht.
Geschichtlicher Hintergrund
Ursprünglich lebten Juden in Palästina. Doch vor nicht ganz 2000 Jahren hatten sie sich mit der römischen Besatzungsmacht angelegt, woraufhin die Römer die Juden aus Palästina vertrieben. Somit begann die Diaspora. Damit ist gemeint, dass Juden in ganz Europa und anderen Weltteilen leben, aber fern von ihrer eigentlichen Heimat sind. In manchen Regionen wurden sie im Mittelalter begrüßt, woanders wurden sie verfolgt, vertrieben und mussten als Sündenböcke für ziemlich alles Mögliche, wie die Pest, herhalten. So wurden die Juden zum Wandervolk. Trotzdem wurden diese irgendwann in Europa verteilt sesshaft.
Die Familie Abba Naors kam vor mehr als 400 Jahren nach Litauen. Und obwohl Litauen ein streng katholisches Land war, und heute auch noch eines der katholischsten Länder ist, haben die Juden dort in Freiheit gelebt. Die Familie bestand aus seinen Eltern, seinem älteren Bruder, ihm selbst und seinem jüngeren Bruder.

Ab 1933 regierten in Deutschland die Nationalsozialisten unter Adolf Hitler. Wieder wurden die Juden zum Sündenbock erklärt. Zunächst wurde gesagt, man solle nicht bei ihnen einkaufen, dann wurden Ehen zwischen „arischen“ und jüdischen Bürgern verboten, irgendwann wurden Synagogen angezündet, Bücher verbrannt und zuletzt auch Menschen.
1939 marschierte Deutschland in Polen ein. Die Sowjetunion besetzte daraufhin die baltischen Länder, Litauen, Lettland und Estland. Alle hebräischen Schulen wurden geschlossen, die übrigen Synagogen auch und man musste Russisch lernen, was erstmal das einzige Problem war.
Beginn des Krieges
Nach Beginn des Deutsch-Sowjetischen Krieges wurde jedoch die Stadt, in der Abba Naor lebte, von deutschen Flugzeugen angegriffen. Also verließ er und seine Familie die Stadt.
Auf dem Weg zurück in ihre Heimatstadt erlebte Abba Naor schreckliche Dinge. Während er berichtet, wirkt es meist so, als würde er die Geschehnisse direkt vor den Augen haben, auch wenn sie bereits 80 Jahre her sind. Natürlich wird er diese Ereignisse nie vergessen können. So berichtet er, dass Menschen dort nicht erschossen wurden, sondern ihnen beispielsweise der Wasserschlauch der Feuerwehr in den Mund gesteckt und angemacht wurde, bis sie starben.
Als sie wieder in Kaunas ankamen, gelangte Abba Naor zu ihrer alten Wohnung, dort stand die freundliche Nachbarin davor. Doch als sie ihn sah, schrie sie nur: „Aha, die Juden kommen schon zurück“.
Es war zu gefährlich, die Wohnung zu verlassen, da aktiv nach jüdischen Männern gesucht wurde. 21 Personen lebten also in der 3-Zimmer-Wohnung seiner Tante. Eines Tages kam der Befehl, alle Juden in Kaunas müssten ihre Wohnungen verlassen. Sie sahen zwei umzäunte Ghettos, die von Deutschen bewacht wurden. Dort wurden alle Juden hineingesperrt. Doch noch immer bestand die Hoffnung, dass sich die Lage beruhigen würde, was sie aber nicht tat.
Massenmord
Um Essen zu bekommen, wurden 14- bis 15-jährige Kinder geschickt. Es wurden 26 geschnappt und am selben Tage erschossen. Abba Naors älterer Bruder war einer der 26. Am 15. August wurden die Ghettos geschlossen, jeder ab 15 musste arbeiten und nur die, die arbeiteten, bekamen Verpflegung. Abba Naor war 13 Jahre alt, als er ins Ghetto kam und den ersten seiner Brüder verlor.
Bald wurde das kleine Ghetto mitsamt aller 3500 Bewohner aufgelöst, viele umgebracht und die Überlebenden in Konzentrationslager deportiert.

Alle im Saal lauschen sehr gespannt und ruhig dem Vortrag. Es gibt kein Gemurmel oder andere Nebengeräusche. Um Abba Naors Vortrag noch anschaulicher darstellen zu können, läuft eine Präsentation ab, Bilder der Ghettos und der Menschen, die u.a. auch ermordet wurden, zeigt. Bis auf die Stimme Abba Naors herrscht absolute Stille im Raum. Man kann und will nicht glauben, dass dieser Mann und somit auch viele andere Menschen die Grauen des Nationalsozialismus aushalten mussten nur wegen ihrer Religion oder anderer Überzeugungen.
Mitte 1942 wurden alle das Ghetto überlebende Juden in Zügen und mit dem Glauben, sie würden dort arbeiten, in die Konzentrationslager gebracht wurden. In den Lagern wurden aber nur arbeitsfähige Menschen gebraucht, die anderen galten als nicht „lebenswert“.
Vernichtungslager
Abba Naors Familie kam vorerst in das Lager Stutthof, ein Arbeits- und Vernichtungslager. Dort wurden die Männer, u.a. er und sein Vater, in Männerlager gebracht und die Frauen und kleine Kinder, u.a. seine Mutter und sein kleiner Bruder, in Frauenlager. Es wurden ihnen versprochen, dass Besuche möglich sein würden, doch das war mal wieder ein leeres Versprechen. Jeden Morgen gingen sie zum Waschraum, wuschen sich, gingen zum Appellplatz zum Zählen und waren dann den ganzen Tag draußen. Zweimal pro Tag bekamen sie etwas zu essen, meistens Suppe. Um 17 Uhr standen sie wieder am Appellplatz, wurden gezählt und bekamen dann meist eine Scheibe Brot und ab und zu auch etwas Käse.
Sein Vater wurde irgendwann weggeschickt, er blieb im Lager. Am 26. Juli 1944 wurden alle Frauen und Kinder in Auschwitz vergast. Seine Mutter und sein kleiner Bruder waren auch unter ihnen. An diesem Tag verlor Abba Naor seine Mutter und nun auch seinen zweiten Bruder, und möglicherweise auch seinen Vater. Das wusste er nicht, da er keinen Kontakt mehr zu ihm hatte.
Rettung?
Abba Naor wurde anschließend in Außenlager Dachaus deportiert, das er nur mit knapper Not überlebte. Am 24. April 1945, der Kampflärm der anrückenden Alliierten war bereits zu hören, wurde das Lager aufgelöst und alle noch Lebenden auf einen Todesmarsch geschickt. Wer zurückblieb, wurde erschossen, vor den Augen aller anderen, weil sie keine Kraft mehr zum Laufen hatten. Da sie auch kein Essen bekamen, begannen viele den Rasen zu essen. Als sie ein totes Pferd fanden, versuchten sie mit bloßen Händen das Fleisch von den Knochen abzubekommen. Eines Nachts legten sie sich bei eisiger Kälte schlafen. Als sie am nächsten Morgen aufwachten, waren die Wachen nicht mehr da – und dann kamen die Amerikaner. Und mit ihnen die Freiheit.
Im Saal wird geschnieft und einige gerötete Augen sind zu sehen, als Abba Naor seinen Vortrag beendet. Man hört so oft von diesen Grauen, aber bisher hat man sie sich nie vorstellen können. Und so wird es auch bleiben: Keiner, außer die Überlebenden und dort Verstorbenen, können sich auch nur ansatzweise vorstellen, wie es in solch einem Ghetto oder Konzentrationslager gewesen sein muss. Dass man jeden Tag fürchten musste, neben einer Leiche aufzuwachen oder jede Stunde, Minute am Tag, Angst hatte, selbst sterben zu müssen. Jeder von ihnen hätte in jedem Moment vor Hunger tot umfallen können. Durch Abba Naors Vortrag ist eine Ahnung des Ausmaßes, vor allem auch, was es für den einzelnen Menschen bedeutete, in die Zuhörer eingesickert.
Fazit für uns
Abba Naors Vater, den er tot geglaubt hatte, überlebte. Er wurde 81 Jahre alt.
Abba Naor wird diese Ereignisse nie vergessen können. Denn wenn er alles vergisst, verliert er dann nicht seine Familie, wie er sagt? Auch meint er, dass er nicht zum Psychologen gehe, denn er erzähle die Ereignisse ja schon vor den Schülern und das sei doch dasselbe, was man auch beim Psychologen mache. Erzählen, was passiert ist. Dass seine Geschichte nicht verloren geht und vergessen wird, hat er auch mithilfe von Helmut Zeller ein Buch geschrieben, namens „Ich sang für die SS“.
Zeitzeugen wie Abba Naor müssen erzählen von dem, was geschehen ist, damit sich Gleiches nie wieder wiederholen wird. Und doch stellt er sich die Frage, ob die Welt etwas davon gelernt hat.
Das Leben ist ein Geschenk, das gibt es nur einmal, schließt Abba Naor seinen Vortrag und die anschließende Diskussion. Man bekommt es kein zweites Mal. Und es sollte egal sein, welche Hautfarbe oder Religion man hat oder in welchem Land man lebt. Keiner sollte wegen so etwas diskriminiert werden. Denn schließlich sind wir doch alle eines – Menschen!
Milissa Müller